Shadowtime
Kurzinformationen:
Musik:
Brian Ferneyhough
Libretto:
Charles Bernstein
Musikalische Leitung:
Jurjen Hempel
Regie:
Frédéric Fisbach
Bühne:
Emmanuel Clolus
Kostüme:
Olga Karpinsky
Veranstaltungsort:
Uraufführung:
Prinzregententheater
Weitere Vorstellungen:
Prinzregententheater
Prinzregententheater
Shadowtime
Brian Ferneyhoughs erste, lang erwartete Oper besteht aus sieben Szenen. Sie bilden in sich geschlossene Teile von eigenem Charakter in Klangbild, Instrumentierung, Text und Struktur. Komponiert wurden sie über einen Zeitraum von ca. fünf Jahren. Einzelne von ihnen wurden bereits konzertant aufgeführt, das Schlussstück, Stelae for Failed Time 2001 im Pariser IRCAM, die meisten Abschnitte des dritten Teils (The Doctrine of Similarity) am 28. März 2000 in New York, der vorletzte Teil im Januar 2004 in Paris, der zweite Teil im Februar dieses Jahres in Brisbane. Das Gesamtwerk erfährt seine szenische Realisation und seine Uraufführung im Rahmen der Münchener Biennale.
Shadowtime entstand in enger Zusammenarbeit Brian Ferneyhoughs mit seinem Librettisten Charles Bernstein, als Dichter und Theoretiker ein Exponent der Language Poetry, die sich – ähnlich wie der abstrakte Expressionismus in der Malerei – auf die Materialität ihres künstlerischen Mediums konzentriert. Der Dichter und der Komponist trafen sich im Frühjahr 1999 im kalifornischen San Diego. Bernstein las dort anlässlich einer Preisverleihung aus seinem poetischen Werk, Ferneyhough hatte damals an der Universität der südkalifornischen Stadt eine Professur für Komposition inne. In ihren ästhetischen Ansätzen entdeckten sie starke Gemeinsamkeiten: Bernsteins Interesse an einer neuen Komplexität in der Poesie kam in seinen Überlegungen zu Struktur, Klang, Zeit und Verlaufsformen dem musikalischen Denken von Brian Ferneyhough sehr nahe. Beide verband außerdem ein ausgeprägtes, anhaltendes Interesse an Walter Benjamin, dem Schriftsteller und Kulturphilosophen aus Berlin, der sich im September 1940 auf der Flucht vor der nationalsozialistischen Verfolgung an der spanisch-französischen Pyrenäengrenze das Leben nahm. Benjamin vertrete „eine sehr ansprechende Zwischenposition zwischen der bisweilen spröden Strenge von Theodor W. Adornos abstraktem Denken und den stärker verbreiteten literarischen Darstellungsformen seiner Zeit. Für Ferneyhough, den Komponisten aus Großbritannien, der lange in Deutschland lehrte und arbeitete, ist Benjamin der „symbolhafte Prototypus für die europäische Intellektuellenkultur im 20. Jahrhundert, für ihre glänzenden Leistungen, aber auch für den Schiffbruch, den sie erleiden musste“. Charles Bernstein sieht in Benjamin den Exponenten der „fesselndsten intellektuellen Traditionen, die in Europa bestanden, aber wo finden sie ihre Fortsetzung? Ich glaube, es kommt auf uns in Amerika zu, sie wenigstens zum Teil fortzusetzen, denn in Europa wurden sie ausgelöscht. Ich will Benjamin für einen amerikanischen sozialen, künstlerischen, poetischen Kontext beanspruchen.“
Gemeinsam entwickelten die beiden Künstler das Szenario der Oper, die Gliederung in Szenen, deren Aufbau und Inhalt. Ferneyhough brachte zum Teil genaue Vorstellungen über Proportionen und Zahlenverhältnisse ein, die Bernstein für die Gestaltung seiner Dichtung dann aufgriff. Von Anfang an bestand der Komponist jedoch darauf, dass das Libretto ein eigenständiges, für sich stimmiges Sprachkunstwerk sein müsse. Ferneyhough wollte keinen Text, den Bernstein nicht auch seiner literarischen Qualität wegen veröffentlichen würde. Poesie sollte es sein, kein Schauspiel, Ferneyhough sprach daher auch von einer „Gedankenoper“ im Gegensatz zur Spieloper. Bernstein entwickelte keine Erzählstränge, die sich wie ein Handlungsfaden durch das ganze Bühnenwerk ziehen. Sein Libretto besteht in sich wiederum aus einer Konstellation durchaus eigenständiger Texte ganz unterschiedlicher Art. Er verwandte Material von Benjamin selbst, er stilisierte, komprimierte fiktive Dialoge zwischen Benjamin und ihm geistig nahe stehenden Denkern und Dichtern wie Gershom Scholem oder Friedrich Hölderlin. Seine Dichtungen sind nach bestimmten Gesetzmäßigkeiten der Struktur, der Lautfolge, des Klangs, des Rhythmus und der Variantenbildungen entworfen. Einige von ihnen durchlaufen Permutationen, die in ihren Verfahren durchaus Kompositionsmethoden der Neuen Musik gleichen. In Bernsteins Texte griff Ferneyhough nicht ein. Über eine Kürzung verständigten sich die beiden Künstler aus Gründen der zeitlichen Proportionen im Gesamtwerk. Gleichsam als Brücken zwischen der Musik und der Dichtung Bernsteins fügte Ferneyhough am Anfang des Werkes und gegen Ende der vierten Szene selbst entwickelte Texte ein. Sie beruhen auf sprachlichem Material, das auf die geistige Umgebung Walter Benjamins hinweist.
In der Oper erscheinen die Worte eingebettet, aufgenommen in die Musik. In den Chorsätzen tragen und bestimmen sie deren Struktur, erhalten aber durch den mehrstimmigen Satz einen weiteren, vielfach gegliederten und geschichteten Raum; durch Tempo und Rhythmus bekommen sie ein neues Maß der Zeit. Sie sind in eine andere Existenzform, auf eine andere Dimension von Sprache übersetzt. Im vierten Teil, dem Monolog des Pianisten mit seinem Instrument, werden die Texte gesprochen. Dort wirken sie wie Kontrahenten der Musik, wie verbale Attacken auf ein musikalisches Kontinuum, dem sie fremd sind und fremd bleiben, auch wenn sie es beeinflussen. Gesprochen werden sie auch im sechsten Teil. Der poetische Vortrag wird dabei zum klanglichen Charakteristikum.
Zwischen den beiden Künsten besteht ein Verhältnis der Übersetzung und damit der Entsprechung in Bezug auf eine gemeinsames „Drittes“. Theodor W. Adorno, der Freund, mit dem Walter Benjamin zahlreiche Gedanken in Gesprächen und in Briefen austauschte, sprach in diesem Zusammenhang von „jenem Anderen“, das nicht zu definieren oder in Einzelheiten zu beschreiben sei und von der Erkenntnis nur umkreist, aber nicht benannt werden könne. Es handelt sich dabei im wörtlichen Sinne um Meta-Physisches, um das, was hinter den Dingen steht, sie bestimmt und ihren Gang lenkt.
Die metaphysische Dimension zieht sich nicht nur durch Benjamins philosophisches Denken, sie ist auch in seinen kurzen Essays über Alltagsbeobachtungen und -erlebnisse gegenwärtig, in seinen Reflexionen über Kunst und Künste spielte sie eine wesentliche Rolle. Die gedankliche Bewegung, die den Vordergrund der Dinge ernst nimmt, aber nicht bei ihm verharrt, sondern weiter fragt und forscht, ist für Brian Ferneyhoughs Oper und ihre einzelnen Teile konstitutiv.
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