A Game of Fives
Kurzinformationen:
Musik:
Cathy van Eck,
Iñigo Giner Miranda,
Leah Muir,
Yoav Pasovsky,
Abel Paúl
Musikalische Leitung:
Errico Fresis
Regie:
Enrico Stolzenburg
Ausstattung:
Kerstin Grießhaber, Carolin Schogs
Lichtdesign:
Detlef Graf
Video:
Caroline Bergmann, Manja Ebert, Sungeun Grace Kim
Veranstaltungsort:
Uraufführung:
Gasteig/Carl-Orff-Saal
Weitere Vorstellungen:
Gasteig/Carl-Orff-Saal
A Game of Fives
Das Projekt der fünf jungen Komponistinnen und Komponisten zum Thema Der ferne Klang befragt vor allem unsere Wahrnehmungsweisen, seien sie musikalischer, räumlicher oder logischer Art. Für alle wurden – bei allen Unterschieden der Herkunft und der künstlerischen Handschrift – die Alice-Romane und die Welt des britischen Autors Lewis Carroll zu einem Ausgangspunkt ihres Denkens. Die Verkehrung der „realen“ Ordnung inspirierte die MusikerInnen zu inhaltlichen und formalen Versuchen, mit konventionellen Repräsentationsweisen zu spielen und diese zu brechen.
Cathy van Eck, Ways and Means
Iñigo Giner Miranda, A Game of Logic
Leah Muir, Von Sodom und Gomorra nach Berlin
Yoav Pasovsky, Pavane – Trialogue – Detuning Down
Abel Paúl, I reached A. through the throng through the threshold through the throb
Die Münchener Biennale realisiert bei jedem Festival ein Gemeinschaftsprojekt in Zusammenarbeit mit wechselnden Hochschulen. Partner ist in diesem Jahr erstmals die Universität der Künste Berlin. Die fünf KomponistInnen und ihr Team kannten das Biennale-Motto und seine geschichtlichen Konnotationen. Sie interpretierten und kommentierten es auf ihre Weise – als etwas, das mit der Vergangenheit und ihren Impulsen zu tun hat, aber auch als Desiderat, als Leitbild ohne Kenntnis des Ziels. Sie gewannen daraus A Game of Fives. Das Team nutzte die Vorteile einer Hochschulproduktion – den geringeren Zeitdruck, die Möglichkeit zu längeren, abgestuften Experimentier- und Probenphasen, die Chance, differente Methoden und künstlerische Ansätze aufeinander einwirken zu lassen.
»Ich arbeite an diesem Projekt schon seit mehr als einem Jahr mit den KomponistInnen zusammen. Im April 2011 starteten wir gemeinsam eine erste Arbeitsphase, an der das gesamte Ensemble, also auch das Ausstattungsteam, die SängerInnen und die InstrumentalistInnen beteiligt waren. Damals war eine der Kompositionen der Idee nach bereits fertig, die anderen Stücke gewannen erst durch den Workshop und in der Auseinandersetzung mit der Dramaturgin an Kontur. In unserer Produktion bringen wir nun Stücke zusammen, in denen das Verhältnis von Komposition und Inszenierung ganz unterschiedlich gelöst wird – von der Entwicklung aus der Improvisation bis zur Auseinandersetzung mit einer fertigen Partitur.« (Enrico Stolzenburg, Regie)
Ein roter Faden verbindet die unterschiedlichen Stücke miteinander. Gedanklich beginnt er bei Lewis Carroll und seinem Spiel mit Verrückungen von Identitäten und mit »logischer Unlogik«. In den Alice-Erzählungen wandte er sich an die spiel- und überraschungsfreudige Neugier der Kinder, im Gesamtœuvre zwischen Mathematik, Theologie und Literatur warf er kognitive, logische und erkenntnistheoretische Fragen auch für die Wissenschaft auf. Beides, das Spielerische und die Anfragen an Wahrnehmung, Denken und schöpferisches Gestalten nehmen die fünf KomponistInnen auf. Sein bekanntestes Werk, die Alice-Geschichten, stand für viele gestalterische Ideen Pate, aber die fünf Stücke entfernen sich von ihnen mindestens ebenso weit wie Alices Fantasien von der Kleinbürger-Kinderstube vor 150 Jahren.
Das Spiel der Fünf beginnt mit einem Stück des jungen spanischen Komponisten Abel Paúl, mit einem »Klangspiel um ein Double, dessen Teile auseinanderstreben, einem Stück über Objekte, ihre Resonanzen und Entfremdungen.«
»Ich schaffe zwei identische Räume. In jedem befindet sich ein Ensemble von gleicher Besetzung und gleichem Aufbau. Das eine agiert wirklich, das andere ist sein Spiegelbild als Stillleben. Die MusikerInnen auf der einen Seite spielen und singen; die Instrumente im Stillleben werden ›künstlich‹ aktiviert; hinter, in und dicht an ihnen sind zahlreiche Lautsprecher angebracht. Durch Klänge schaffe ich Parallelen zwischen Live-Ensemble und Stillleben. Aber die Synchronität wird mehr und mehr gestört, durchbrochen, sie weicht Irritationen. Eine Sängerin singt zum Beispiel, die andere nicht. Diese öffnet ihren Mund, aber man hört die andere oder man vernimmt einen Chor, den man gar nicht sieht. Wiederholungen erscheinen in unterschiedlichen Kontexten wie Verwandlungen, Entsprechungen werden aufgebaut und aufgelöst. Bisweilen lässt sich nicht mehr unterscheiden, was ursprünglicher Klang ist und was Kopie.
Die Anregung stammt aus einer von Lewis Carrolls Alice-Erzählungen: Through the Looking Glasses (Alice hinter den Spiegeln), in der Alice durch den Spiegel geht und in einen Raum gelangt, der aussieht wie der derjenige, aus dem sie kommt, aber die Optik differiert mehr und mehr. Diesem Vorgang der Entfremdung ursprünglicher (oder vermeintlicher?) Identität gebe ich eine Klanggestalt.« (Abel Paúl)
Das Gemeinschaftsprojekt endet mit einem Spiegelbild des Beginnens: Yoav Pasovsky komponierte Detuning Down als rückläufige Antwort auf Edgard Varèses Tuning Up, ein Orchesterstück über das Einstimmen und Einspielen vor einem Konzert. Pasovsky organisiert den Prozess in gespiegelter Richtung, am Ende steht der Stimmton des Klaviers, mit dem das Vor-Konzert-Präludieren üblicherweise anfängt. Erreicht wird er über das, was Musiker beim Einspielen tun: das »Durchfingern« der schweren Stellen aus einem Werk.
»Für Detuning Down verwende ich Material aus allen anderen Stücken der Produktion. Die konkrete Partitur ist kontextabhängig, sie steht deshalb erst in einem relativ späten Arbeitsstadium fest. Ich konzipierte Detuning Down als Teil einer Trilogie, deren einzelne Stücke flexibel eingesetzt werden können, sie müssen nicht hintereinander gespielt werden. In unserer Produktion werden sie zwischen die anderen Werke verteilt. Trialogue setzt die Spannung von drei Gedichten Lewis Carrolls in die Musik fort – in das Verhältnis von Gedichtvortrag, Gesang und Instrumentalspiel, von Kontinuität, Einwürfen und Konflikten.
In der Pavane, einem imaginären Tanzspiel, nähert sich eine Geigerin ihrem Spiegelbild, einem Tanz Performer, der kein Instrument hält, aber ihre Bewegungen imitiert. Irgendwann kippt die Kausalität ihrer Beziehung, das Spiegelbild nimmt den Bogen, streicht über seine Schulter, aber der Klang kommt aus der Geige, die nicht gespielt wird. Die Logik der Szene führt in eine absurde Konstellation von Hören und Sehen. Das wirkt wie ein Zaubertrick, aber es funktioniert. Die Unlogik ist, wie bei Lewis Carroll, die Konsequenz einer strikt befolgten Logik.« (Yoav Pasovsky)
Das Auseinandertreten von Erwartung und Erleben, die Wechselwirkung von Sinneseindrücken, die einander widersprechen, kurz: Carrolls »logische Unlogik« spielt die niederländische Komponistin Cathy van Eck durch.
» In Ways and Means äußern sich die Performerinnen hauptsächlich in Gesten, mit denen sie Geräusche ansteuern. In der einen Hand haben sie ein Mikrofon, in der anderen einen kleinen Lautsprecher. Durch live-elektronische Verarbeitungen werden nun die Gesten zum Klingen gebracht. Die Elektronik reagiert unterschiedlich je nach Entfernung zwischen Lautsprecher und Mikrofon und je nach Höhe und Lautstärke der gesungenen Töne. Anstelle der Stimmen sind es jetzt die Gesten, die versuchen zu singen. Das Stück entsteht nicht als Partitur, die ich ausarbeite und die andere dann realisieren, sondern als work in progress. Ich gebe eine Art »Lied«, eine Spielsituation, eine Verlaufslogik vor, und wir probieren gemeinsam, mit Regisseur und Performerinnen zusammen, aus, wohin das führen kann. Aus den Bausteinen der experimentellen Erfahrung schält sich dann die endgültige Szene in ihrer optischen und klanglichen Gestalt heraus.« (Cathy van Eck)
Zu den kognitiven Vergnügen der Kindheit zählten einst neben Suchbildern auch die optischen Täuschungen, bei denen Geraden krumm, Parallelen schief und gleich Schattierungen konträr erscheinen. Das Spiel mit solchen Irritationen von Wahrnehmung und Intellekt bietet denen, die es mögen, ein Vergnügen ganz eigener Art. Der spanische Musiker Iñigo Giner Miranda macht Wahrnehmungstäuschungen zum Gegenstand seines Komponierens.
»Ich finde es interessant, die Welt zu erforschen, in der das, was man sieht, mit dem, was man hört, nicht übereinstimmt. Diese Trennung ermöglicht mir, das Visuelle als wesentlichen Teil in der Komposition einzusetzen und musikalisch damit zu arbeiten. Für die Wirkung meines Stücks, einer Szene für drei Sängerinnen und sechs Musiker, wird ein ausgeprägtes Spiel mit dem Licht maßgebend sein. Beständig gehen Lichter an und aus, man sieht bestimmte Leute, andere nicht, manchmal alle, manchmal keinen. Der Verlauf des Stückes ist fragmentiert, jede Lichteinstellung von zwanzig bis dreißig Sekunden erzeugt eine kurze Szene, der sofort die nächste folgt. Manche dieser Szenen stellen eine Verfremdung dar, in der man Dinge vernimmt, die man nicht sieht (z.B. sieht man Musiker, die spielen, hört aber nichts oder etwas anderes als das, was sie spielen). Diese Diskrepanz zwischen Hören und Sehen verstärkt sich im Laufe des Stücks. Die ›Logik‹ der Sinne gerät aus der vertrauten Synchronisation, und stellt somit die Selbstverständlichkeit unserer Wahrnehmungsmechanismen in Frage. « (Iñigo Giner Miranda)
Einer anderen Linie folgt Leah Muir, die vor ihrem Meisterstudium an der UdK Berlin in der experimentellen Szene der USA arbeitete. Mit ihrem konzeptuellen Ansatz nimmt sie auf Carrolls multidisziplinäres Denken Bezug.
»Mit meinen performativen Kompositionen möchte ich einen ästhetischen Gehalt generieren, der nicht nur für Kenner und Experten verständlich ist, sondern auch ein großes Publikum ergreifen kann. Wichtig ist mir dabei, meine musikalischen Gedanken und Arbeitstechniken mit Erkenntnissen der gegenwärtigen Kunsttheorie zu verknüpfen. Man braucht eine Infrastruktur, um kritische Gedanken in Musik und Kunst einzubetten. Die Theorien wirken im Idealfall als Anstoß, als Material und Teil der Komposition. Für mein Stück zur Münchener Biennale wählte ich als Basis die Power-Point-Präsentation eines Vortrags, den Harry Lehmann über Naturkatastrophen und ihre Auswirkungen auf Denken und Kommunikation hielt. Er dient als Libretto und als theatralisches Element, das fragmentiert in die Partitur einkomponiert ist. In der Aufführung wird es als Video eingespielt. Es ist so mit der Musik verzahnt, dass es als deren Kontrapunkt, als ihr Teil und Gegenüber zugleich wirkt.« (Leah Muir)
»Für unser Bühnenbild verwenden wir große Mengen an Kabeln vom Schrottplatz. In unterschiedlicher Raumtiefe aufgehängt, werden diese Kabel zweckentfremdet. Sie dienen als Vorhänge, auf die man projizieren, vor denen man auftreten und hinter denen man sich verbergen kann. Das gleiche Material, mit der die für die Aufführung der Stücke benötigte Elektronik gesteuert wird, strukturiert also den Bühnenraum, und Carroll steht auch hier gedanklich Pate. Die Unlogik wird logisch und die Logik unserer Wirklichkeit wird infrage gestellt, wenn die projizierten Videobilder zeigen, wie untrennbar das beides ist: der Hochglanz der neuen Medien und der Müllberg, auf dem die ausrangierten Geräte unseres Konsums landen.« (Enrico Stolzenburg)