L’ABSENCE
Oper in 5 Akten
Kurzinformationen:
Musik:
Sarah Nemtsov
Libretto:
nach Le Livre des Questions von Edmond Jabès
Musikalische Leitung:
Rüdiger Bohn
Regie:
Jasmin Solfaghari
Bühne:
Etienne Pluss
Veranstaltungsort:
Uraufführung:
Muffathalle
Weitere Vorstellungen:
Muffathalle
Muffathalle
L’ABSENCE
Oper in 5 Akten
Sarah Nemtsovs Oper beruht auf Edmond Jabès’ Buch der Fragen. Jabès, 1912 in Kairo geboren, musste nach der Suezkrise Ägypten verlassen und emigrierte nach Paris. 1963 schrieb er sein Livre des questions. Sarah Nemtsov traf daraus eine Auswahl, ohne die Abfolge der Passagen und den Wortlaut der Dichtung zu verändern. Das Buch der Fragen enthält die Geschichte von Sarah, Yukel und ihrer Liebe. Sarah und Yukel sind – oder waren? – ein Paar. Sarah wurde wie ihre Eltern in ein Vernichtungslager deportiert. Ihre Eltern wurden ermordet, sie überlebte, aber mit einer zerstörten Seele. Sie ist nicht mehr bei sich. »Ich höre den Schrei nicht, ich bin der Schrei«, sagt sie in der entrückten Weisheit derer, die an der Welt irre werden mussten. Yukel, der ebenfalls überlebte, sucht Sarah – örtlich, physisch, vor allem aber als den Menschen, den er einmal kannte und dem seine Liebe galt. Dieser Mensch ist nicht mehr.
Aus einem Gespräch mit Sarah Nemtsov
Habakuk Traber: Frau Nemtsov, wie kamen sie auf Jabès?
Sarah Nemtsov: Durch eine wundersame Verkettung von Zufällen. Nach meinem Abschluss an der Hochschule in Hannover riet mir mein Kompositionslehrer Johannes Schöllhorn, für mein Meisterstudium einen anderen Mentor zu wählen, um Anregungen aus anderer Perspektive und Erfahrung zu erhalten – für einen Lehrer ist dies, wie ich finde, ein Zeichen von Größe. Ich stellte mich in Berlin bei Walter Zimmermann vor und zeigte ihm einige Kompositionen. Am Abend nach einem Konzert kamen wir auf Jabès und sein Buch der Fragen zu sprechen. Am nächsten Abend traf ich bei einer Lesung im Berliner Literaturhaus einen Freund, dem ich viele Anregungen verdanke. Was hatte er bei sich? Jabès’ Buch der Fragen. Er empfahl es mir mit eindringlichen Worten. Bei der Lektüre fühlte ich mich regelrecht in das Buch hineingezogen. Als Johannes Schöllhorn nach der Uraufführung meiner Kammeroper Herzland meinte, dass nun wohl bald eine große Oper an der Reihe wäre, wusste ich: Ich schreibe eine Oper nach Jabès. Mir war ziemlich schnell klar, welche Teile aus Jabès’ Textkonstellation ich auswählen würde. Ich musste im Lauf der Arbeit danach nur noch wenig kürzen. Dann begann ich mit der Komposition, die mich ungefähr zwei Jahre intensiv und kontinuierlich beschäftigte.
HT: Mit der Besetzung der Partien, der Wahl ihres Stimmfachs und ihres vokalen Ausdrucks zwischen Sprechen und Singen intensivieren Sie die Charakterisierung der Personen, wie sie bei Jabès angelegt ist. Wie weit reichen die Anregungen aus dem Buch der Fragen in die Écriture Ihrer Musik?
Sarah Nemtsov: Einige kompositorische Entscheidungen sind durch Jabès’ Buch und sein Denken angeregt, zum Beispiel durch die Art, wie er Sarah und Yukel mit der jüdischen Geschichte verbindet, wie er im konkreten Leben eine lange Historie sichtbar macht, im Heute die Jahrhunderte, im Schicksal des Paares die Geschicke eines Volkes durchschaut. Mir eröffnete dies auch musikalische Perspektiven. Den Partien von Sarah und Yukel gab ich einen eigenen Charakter. Was sie singen, ist musikalisch aus alten jüdischen Kantillationen, Gesängen der Synagogen-Gottesdienste, abgeleitet. Ich zitiere nicht. Ich verwende von jeder Kantillation Versionen aus unterschiedlichen Überlieferungen und mische diese, den ersten Vers aus der einen, den zweiten aus der nächsten, den dritten wieder aus einer anderen. So wird das Ausgangsmaterial »unrein«, (nirgends singt man so), aber zugleich zum Zeichen der Präsenz vielfältiger Traditionen. Dann habe ich die Modelle nach bestimmten Regeln, nach einer Art Reihe, gefiltert und verwandelt; die überlieferten Gesänge treten nie in ihrer ursprünglichen Gestalt auf, selbst dann nicht, wenn es für einen Augenblick so wirken mag. Die alten Melodien werden gleichsam in die Gegenwart reflektiert. Vielleicht erkennen diejenigen, die Kantillationen gehört haben, eine ferne Verbindung, wie einen Schatten oder wie Strahlen, die aus der Geschichte in die Gegenwart fallen. Aus dem Durchscheinen alter, selbst vielfach gewandelter Traditionen entstehen die musikalischen Charaktere von Sarah und Yukel; ob man dies heraushört oder nicht, ist zweitrangig. Die Verbindung ist vorhanden, so wie wir in unserer Geschichte auch dann leben, wenn wir uns dies nicht bewusst machen.
HT: Und die Rabbiner? Gehören Kantillationen nicht eigentlich zu ihnen?
Sarah Nemtsov: Die Kantillationen gehören zur jüdischen Geschichte, zur Kommunikation der Juden mit und über den, an den sie glauben. Diese Verbindung war mir aus inhaltlichen Überlegungen vor allem für Sarah und Yukel wichtig. Für den Part der Rabbiner bewegten mich andere Überlegungen. Bei Jabès stehen sie für verschiedene Traditionen und Auslegungen, auch für verschiedene historische Zeitschichten ein. Sie sprechen nicht mit einer, sondern mit vielen Stimmen. Ich wollte deshalb eine Polyphonie entwickeln, die dem gerecht wird. Die Rabbiner singen meist im Chor, oft vierteltönig mit Glissandi, Vibrati, rhythmisch leicht versetzt. Sie singen jeder für sich und doch gemeinsam wie im leidenschaftlichen Gebet einer Schabath-Feier.
HT: Ich glaube, in Ihrer Partitur immer wieder eine starke Durchlässigkeit der vokalen gegenüber der instrumentalen Schicht und umgekehrt zu erkennen. Besonders an einer Stelle scheint mir die Deklamation in die Instrumente übergegangen zu sein. In der vierten und letzten Szene des zweiten Akts sieht man ein Streichtrio und einen Sänger auf der Bühne. Was sie spielen und singen, klingt im Orchester stellenweise nach, wird von dort gestützt oder vorsichtig kommentiert. Die Streicher auf der Bühne spielen rasche, unterschiedlich rhythmisierte Wiederholungen wechselnder Töne wie in einer erregten Rede. Was bedeutet sie?
Sarah Nemtsov: Im Buch stellt einer der Rabbiner (Jabès nennt ihn nicht beim Namen) Betrachtungen über die Zahl vier an, »die Zahl unseres Verlustes«. Was die Instrumente spielen, ist eine Art Übersetzung seiner Rede. Ich habe dafür ein eigenes »Morsealphabet« entwickelt; jedem Buchstaben entspricht darin ein rhythmisches Motiv. Nach diesem System werden die Ausführungen musikalisch buchstabiert. Das Zusammenspiel habe ich außerdem nach bestimmten harmonischen Regeln organisiert. An der Musik sind entweder einer bis drei oder fünf bis sieben Musiker auf der Bühne und im Orchester beteiligt. Die Zahl vier, die »Zahl unseres Verlustes«, bleibt ausgespart bis auf die wenigen Stellen, an denen sie im Text genannt wird. Immer dann schrieb ich vierstimmig, sonst nie. Warum das?
Ich habe manchmal das Bedürfnis, mir strenge Regeln zu geben, gegen die ich ankomponiere. Die Komposition gelingt dann, wenn ich mich dieser Regeln als musiksprachlicher Mittel bedienen und mit ihrer Hilfe gestalten kann, ohne dass sie mir zum Zwang werden. Die Musik gewinnt dadurch Klarheit und Konzentration. Ich verfahre nicht immer nach so strengen Vorgaben, oft schreibe ich Stücke auch ganz frei und intuitiv. In einem großen Werk wie einer Oper muss man jedoch Zusammenhang und Kontrast gut disponieren, auch in der Wahl der Mittel Vielfalt und Stringenz bewirken. Dafür sind konstruktive Ideen und Regeln nicht nur hilfreich, sondern nötig.
Das »Buchstabieren« ist im Übrigen ein kompositorisches Mittel, das ich speziell für diese Oper entwickelt und sonst nirgends verwendet habe. Auch Verfremdungen von Kantillationen kommen in keinem meiner anderen Werke vor. In beiden Verfahren sehe ich enge Korrespondenzen zu Edmond Jabès, seiner Art der literarischen Komposition und zu seinem Zeitverständnis.