Cantio
Brief informations:
Music:
Vykintas Baltakas
Text:
Sharon Lynn Joyce
Musikalische Leitung:
Christoph Poppen
Regie:
Oskaras Koršunovas
Bühne / Video Artist:
Gintaras Makarevicius
Kostüme:
Agne Kuzmickaite
Venue:
World premiere:
Theater im Haus der Kunst
Further performances:
Theater im Haus der Kunst
Theater im Haus der Kunst
Theater im Haus der Kunst
Cantio
Protokolle über die Entstehung von Kunst können selbst den Charakter von Literatur annehmen, können zum beredten Begleiter des Prozesses werden, in dem ein Werk zu seiner – festen oder variablen – Gestalt findet. Vykintas Baltakas und seine Librettistin Sharon Joyce haben die Entstehung ihrer Überlegungen und den Fortgang ihrer Arbeit in Dialogen festgehalten, die sich mit der Arbeit selbst veränderten, erweiterten. Die Art des Protokolls hat selbst mit der Ästhetik ihres musiktheatralischen Erstlings zu tun.
Cantio heißt das Stück, „Gesang“. Der Titel selbst hat sich im Laufe der Arbeit geändert. Oratio hieß er einmal, „Rede“. Der Wandel der Überschrift deutet die Spannung an, aus der das Stück Stoff und Energie bezieht: aus dem Zusammenspiel von Sprache und Musik, aus dem Sinnzusammenhang des Musiktheaters. Er wird in Cantio selbst zum Thema.
Vykintas Baltakas, Sharon Lynn Joyce
Protokoll einer Oper
Ein Komponist, gebeten, eine Oper zu schreiben, wies jeden Gedanken, eine Geschichte, einen fertigen Text zu vertonen, weit von sich. „Wenn der Text gut ist, gewinnt er durch die Musik nicht. Ist er nicht gut, hat es auch keinen Sinn, Musik dazuzugeben, das Ganze wird dadurch nur noch schlechter“, sagte er zu einer Librettistin.
„Heißt das: es gibt keinen Text, der sich eignen könnte?“ fragte die Librettistin, etwas ängstlich, nach.
„Ich meine, mit jeder vorhandenen, abgeschlossenen Geschichte gibt es Schwierigkeiten. Ich betrachte die Musik selbst als eine Geschichte“, sagte der Komponist. „Die musikalische Geschichte wird eine bestimmte Entwicklung durchlaufen und sich dabei auf die anderen Ausdrucksformen beziehen. Sie alle zusammen machen dann die wirkliche Geschichte aus.“
Librettistin: Und was könnte ich dir dann als strukturierenden Text bieten?
Komponist: Konzentriere dich auf den Akt des Sprechens. Das Sprechen selbst ist die Geschichte, und alles andere geht aus ihr hervor – die Geschichte entsteht aus dem Bemühen, dem Verlangen, zu sprechen. Das wesentliche, substantielle Bedürfnis nach Ausdruck wird wichtiger als der Inhalt des Gesprochenen.
Librettistin: Aber wir brauchen einen Inhalt, wir brauchen ein Thema, eine Geschichte. Es kann nicht um den reinen Ausdruck um seiner selbst willen gehen. Ein starker Ausdruck braucht einen starken Anlass. Wenn ich richtig sehe, willst du eine dramatische Situation, in der eine Stimme – nicht wirklich ein Charakter – spricht und singt, mit einem ausgeprägten Sinn für Eindringlichkeit.
Komponist: Stimmt. Wie in öffentlichen Reden. Denke an Rhetorik, vielleicht an die antike Rhetorik.
Librettistin: Gut, nur Rhetorik, wie sie vor Gericht oder in der Politik angewandt wird, ist ziemlich uninteressant. Vielleicht lässt sich so etwas wie ein übersteigerter Überredungsversuch, vielleicht sogar ein Versuch, Menschen durch Reden zu verführen, zum Vorbild nehmen. Darauf zielte letztlich die antike Rhetorik ab.
Komponist: Dann lass uns ganz vorn anfangen, lass uns versuchen, mit einem Stück antiker Rhetorik zu arbeiten. Lass uns am Ursprung beginnen.
Librettistin: Aber alle diese Texte sind in altgriechisch. Keiner versteht sie. Warum sollten wir nicht eine Sprache wählen, die die Leute verstehen.
Komponist: Das würde nichts ändern. Ich glaube, die Bedeutung der Sprache im Musiktheater wurde überschätzt. Kannst du mir eine einzige Oper nennen, in der man den Text ganz versteht? Nimm den schönen Text von Strauss’ Ariadne auf Naxos. Wird er, im Mund von Sängerinnen und Sängern, nicht – etwas vereinfacht – zum entstellten Überrest eines Textes? Übrig bleibt nur eine Vokalfolge. Die Bedeutung geht verloren, und du behältst nur Klänge, keinen Sinn. Man sollte die Geschichte verstehen können. Aber der Text allein leistet das nicht. Musikalischer Ausdruck, Verwandlung, Gestik, Choreografie – all das muss als Teil der Sprache des Musiktheaters begriffen werden. Es ist ein Fehler, wenn man nicht erkennen will, dass sich die literarische Sprache zwar für das Schreiben von Büchern eignet, nicht jedoch für das Musiktheater. Die Geschichte muss in die spezifische Sprache des Musiktheaters übersetzt werden, wenn wir wollen, dass die Leute sie in diesem Kontext verstehen. Wir dürfen keine Umgangssprache, keine vorhandene Sprache verwenden, höchstens das alte Griechisch selbst, dann könnten die Leute die Klangvaleurs auf sich wirken lassen, ohne durch einen vordergründigen Erzählzusammenhang abgelenkt zu werden.
Librettistin: Abgelenkt wodurch, durch die Bedeutung der Worte? Das meinst du nicht ernst.
Komponist: Doch. Wenn wir den Text in Griechisch verwenden, halten wir das Publikum von einem Erzählzusammenhang fern, so können sie ihre eigenen Vorstellungen entwickeln und wirklich am musikalisch theatralischen Vorgang teilhaben, ohne abgelenkt zu werden, weil sie ständig nach eingeblendeten Untertiteln suchen.
Librettistin (etwas skeptisch): Mmmm.
Komponist: Griechisch war die ursprüngliche Sprache der klassischen Rhetorik. Es könnte darüber hinaus interessant sein, Verbindungen zu den indogermanischen Sprachen insgesamt herzustellen, und sanfte Übergänge in andere Sprachen zu schaffen.
Librettistin: Utopisch. Wie sollen die Leute das nachvollziehen können? Ich bin einverstanden, dass wir auf Untertitel verzichten, weil sie das Auge des Zuschauers von der Bühne weg lenken, wo sich der non-verbale Anteil der Geschichte zuträgt. Trotzdem sehe ich keinen Ansatz, wie ich einen Text schreiben soll, den keiner versteht.
Komponist: Wir werden das später herausfinden.
Einige Monate später
Die Librettistin durchwühlt die Regale mit klassischer Literatur und stöbert viele kostbare alte Texte auf bei der Suche nach einer Idee, die Bedeutung in sich trägt, aber nicht so streng und definitiv strukturiert ist, dass sie den Komponist behindert und einschränkt. Gewisse kleine Fragmente poetischer Texte, fast vergessen, begannen sie zu faszinieren. Die Bruchstücke antiker Lyrik liefern nur einige wenige Worte, trotzdem bieten sie einen Ansatz; hier kann man mit der Arbeit beginnen.
Die geschriebenen Bruchstücke scheinen in scharfen Konturen aus dem leeren Raum aufzutauchen, sie scheinen auf eine Geschichte hinzuweisen, ohne sie zu erzählen. Das begeistert den Komponisten. Er beginnt sich vorzustellen, wie die Fragmente wieder zu einem Ganzen wachsen, wie ihr Inhalt allmählich wieder entdeckt oder ein neuer gefunden wird. Er sieht die Fragmente in Klang und Bedeutung wachsen, bis sie schließlich zusammenwachsen und zu einem ununterbrochenen Gesang werden. Glücklich macht sich die Librettistin an die Arbeit, um ein Szenario für einen solchen Gesang, eine „cantio“ zu entwickeln.
Librettistin: Was hältst du von dieser Grundidee?
Menander, Über die Rede
Apopemptische Hymnen (das sind Abschiedshymnen) sind wie einige, die man bei Bacchylides fand, sie enthalten eine Abschiedsrede für jemanden, der das Land verlässt…
Apopemptische Hymnen sind, wie ihr Name sagt, das Gegenstück zu Hymnen der Anrufung; der Typus ist sehr selten, er findet sich nur bei den Dichtern. Die werden bei wirklichen oder vorgestellten Abreisen von Göttern aufgeführt. (…) Hymnen dieser Art haben als Ausgangsmaterial das Land oder die Städte, die der Gott verlässt, und entsprechend die Stadt oder das Land, wohin er geht, sie geben Beschreibungen von Orten und dergleichen. Der Text muss angenehm fließen, weil man natürlich länger bei einem Thema und Gedanken verweilt: bei Hymnen der Anbetung verwendet man weniger Zeit auf die Ausführung der Gedanken, man will ja, dass die Götter möglichst schnell zu einem kommen; aber bei apopemptischen Hymnen wollen wir ihren Abschied so lange wie möglich hinauszögern. Ein Gebet um Wiederkehr muss enthalten sein. So viel zu apopemptischen Hymnen.
Menander
Komponist: Interessant. Was gefällt die daran?
Librettistin: Menanders Text entwirft ein Szenario für einen unendlichen Gesang, der unter den einzelnen Fragmenten liegen und sie zusammenhalten könnte. Ich kann mir eine interessante Spannung vorstellen zwischen der Dringlichkeit und Unausweichlichkeit des Ereignisses auf der einen, und der Notwendigkeit, sich nicht darüber zu grämen, sondern einen angenehmen Fluss der Rede und des Gesangs zu bieten, auf der anderen Seite. Weil aber die Fortsetzung des Liedes die Götter zurückhält und ihren Abschied verzögert, wird der Sänger weitersingen müssen, so lange er kann.
Komponist: Und so wird der Akt des Singens wichtiger als jeder spezifische Inhalt des Gesangs.
Librettistin: Genau, vorausgesetzt, er ist interessant genug zum Zuhören, und rührt die launischen Götter, die im Hafen vor Anker liegen, bereit zur Abfahrt. Der Gesang muss sie bezaubern, entzücken, er muss es zumindest versuchen.
Komponist: Was für eine Art von Text stellst du dir vor?
Librettistin: Die Leute in einer Stadt entdecken eines schönen Tages, dass die Götter ein Schiff gebaut und zu Wasser gelassen haben. Sie müssen darauf reagieren, also antworten sie mit Gesang. Diese Stimme wird mehr oder weniger der von Menander überlieferten Struktur folgen, von der Heimat singen, sie vor den Göttern preisen, andere Orte und Ereignisse der Gegend beschreiben, Orte, an die die Götter ziehen könnten.
Komponist: Trotzdem weiß niemand, wohin sie ziehen.
Librettistin: Genau. Aber er muss einfach am Sprechen bleiben, er wird einen Einfall auf den andern folgen lassen, wird mögliche Übergänge erfinden und die fantastischen Gerüchte, die erzählt werden, ausmalen und ausschmücken. Man findet eine Menge interessanter Ortsbeschreibungen bei Herodot und Pausanias, ich verwende sie neben den Fragmenten. Wie auch immer, die Stimme bringt die verschiedenen Orte miteinander in Verbindung, improvisiert die Beschreibung einer Reise und macht so lange weiter, bis er das Ende der Welt erreicht hat. Aber selbst dann kann er nicht aufhören, oder doch?
Komponist: Er sollte nicht aufhören. Für die Stimme ist es wichtig, weiterzumachen, auf jede erdenkliche Art, selbst wenn die Götter abreisen oder schon abgereist sein sollten.
Librettistin: Und wir sollten die Tatsache bedenken, dass es sich wirklich um Gesang handelt, um eine mündliche Aufführung, weil das die Übersetzung und die Verständlichkeit berührt. Ursprüngliche überlebte Poesie nur durch mündliche Überlieferung. So lang die Überlieferung mündlich blieb, war sie wandelbar und erfuhr feine Veränderungen, aber als sie aufgeschrieben wurde, nahm sie feste, standardisierte Formen an. Ich sähe es gerne, wenn sich unsere Geschichte von Vorstellung zu Vorstellung verändern könnte, ganz im Sinne einer mündlichen Tradition. Ich meine, unsere Geschichte dreht sich um die Aufführung, um das Sprechen, nicht wahr?
Komponist: Das ist nicht wirklich durchführbar, wie du weißt.
Librettistin: Gut, könnte die schriftliche etwas von der gesungenen und gesprochenen Version abweichen? Versuchen, ihr zu folgen, sie erstarren zu lassen, sie einzufangen, aber irgendwie auch daran scheitern?
Komponist: Möglich.
Librettistin: Tatsächlich könnte das, was man hört (in der Zeit) und das, was man sieht (Texte sind statisch, unbewegt), sogar irgendwie unterschiedliche Geschichten erzählen – oder versuchen sie (in verschiedenen Medien) auf einen Brennpunkt eines „verlorenen“ Gedankenstrangs zu lenken. Und die geschriebene Version wäre eine Art Palimpsest eines ständig sich verändernden Textes? Der gesungene Text könnte schriftlich übersetzt werden, und das Aufgeschriebene könnte fixiert, verändert, ausradiert werden. Es würde versuchen, der Rede zu folgen, so gut es geht. Auf einer Art Tafel.
Komponist: Auf eine Tafel schreiben… Musikalisch könnte das höchst interessant sein. Wir müssen den Vorgang nur verstärken, und dann auf diese Weise Musik schreiben: eine Schicht von schlagzeugähnlichem Klang.
Librettistin: Zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Außerdem nimmt es Rücksicht auf das Problem mit den Untertiteln. Der geschriebene Texte kann das Griechische übersetzen. Dafür braucht man einen Text, der schnell geschrieben und verändert werden kann. Vielleicht etwas, was sich von einer Zeile zur nächsten wiederholt, aber dabei ein oder zwei Worte auswechselt, damit den Sinn grundlegend verändert und so die Geschichte voranbringt. Diese schrittweise Veränderung kann die Geschichte und ihre Form gestalten, gäbe ihr einen langsam sich wandelnden, strukturierten Text. Die Struktur hinterließe eine Spur, eine sichtbare und eine hörbare.
(...)