Die Münchener Biennale

Die Münchener Biennale

internationales Festival für neues Musiktheater

In der Geschichte der Neuen Musik stand die Oper nicht im Zentrum, sondern eher am Rande. Der erklärte Fortschritt spielte sich in anderen Bereichen der Tonkunst ab. Die Exponenten der Nachkriegsmoderne, der Komponistengeneration, die in den zwanziger und frühen dreißiger Jahren geboren wurde, fanden erst ziemlich spät zum Musiktheater (etwas schneller zum Theater in der Musik):

Ligeti schrieb seinen Grand Macabre 1974-77, Helmut Lachenmann sein Mädchen mit den Schwefelhölzern gar erst 1990-96, Karlheinz Stockhausen arbeitete sich über Raummusik und multikulturelle Mystik zur theatralischen Inszenierung von Musik vor, der Prozess begann in den achtziger Jahren; Pierre Boulez lotete zwar riesige Steinbrüche mit seiner komponierten Klangregie aus, doch Opern schrieb er nicht, die dirigierte er nur. Luigi Nono bildete in diesem Avantgardistenkreis eine Ausnahme; bei seiner Intolleranza war Politik im Spiel. Hans Werner Henze schlug als einer der wenigen aus dieser Generation keinen Bogen um die Oper als tradierte Kunstform und als Veranstaltungsort, sondern bediente sich ihrer, weil er sie nicht per se für eine reaktionäre Institution hielt.

Henze wusste aus eigener Erfahrung, dass die relative Distanz von Oper und Avantgarde auf Gegenseitigkeit beruhte, und dass international so etwas wie ein Laboratorium fehlte, das jungen Komponisten die Theaterwelten im Experiment, in der Erprobung, im Erfahrungsaustausch mit älteren Kollegen hätte erschließen können. Es gab die elektronischen Studios an Hochschulen, Universitäten und Rundfunkanstalten. Das IRCAM in Paris kümmerte sich um "recherche et cooperation acoustique / musique", unter anderem um das Zusammenwirken herkömmlicher und elektronischer Instrumente. Wo aber blieb das neue Musiktheater?

Bei der Entstehung der Münchener Biennale wirkten Erkenntnis und Interesse auf einmalige Art zusammen. Hans Werner Henze: "Die ganze Geschichte begann mit der Anfrage des (Münchner) Kulturreferenten, ob ich Lust hätte, mir über die Ausgestaltung eines wie immer auch gearteten Münchner städtischen Musikfestes Gedanken zu machen. Ich schlug nach einiger Zeit vor, etwas einzurichten, was bisher gefehlt hat, und was es auch sonst an keinem Ort der Welt gibt und doch eine dringende Notwendigkeit wäre: nämlich einen Ort, an dem theaterinteressierte Komponisten der jungen Generation ihre Ideen in die Wirklichkeit umsetzen könnten." So kam die Münchener Biennale ins Leben;

1988 fand das erste internationale Festival für neues Musiktheater statt. Adriana Hölszky war dabei, die Komponistin aus Bukarest, die seit 1976 in der Bundesrepublik Deutschland lebte, mit der Bremer Freiheit, einer Oper nach Rainer Werner Fassbinders Drama von der Giftmörderin Geesche Gottfried, die 1831 in Bremen hingerichtet wurde. Es war Hölszkys erste Arbeit für das Musiktheater.- Weit über vierzig Mal ist die Oper inzwischen gespielt worden, an den Staatstheatern in Stuttgart und Bremen, bei Festivals in Wien, Wiesbaden, Helsinki - eine Erfolgsgeschichte, die Gerd Kührs Stallerhof annähernd mit ihr teilte. Detlev Glanerts erste Oper Leyla und Medjnun eröffnete das Festival, sie hatte ein altes persisches Märchen über die Dichterliebe, den Wahnsinn und den Tod zum Gegenstand. Mark-Anthony Turnages Greek beschloss die Serie der Premieren - das Werk ist inzwischen über 60 Mal in Deutschland und Großbritannien, in Italien, den Niederlanden, Australien und den USA gegeben worden.

Es waren Opern, deren Libretti auf Dichtungen und Dramen aus alter und neuer Zeit, aus europäischen und aus fernen Kulturen beruhten; sie durchleuchteten wahre Geschichten und gaben Mythen, Fantasien klingenden Raum. Das Genre der Literaturoper blieb kennzeichnend für die Ära Henze, die ersten fünf Festivals der Münchener Biennale. Bei den Uraufführungen 1990 bezog sich András Hamary mit seiner Oper Seid still auf eine Novelle seines Landsmanns István Örkény, Wolfgang von Schweinitz nahm die Johannes-Apokalypse zur Vorlage von Patmos, Hans-Jürgen von Boses 63: Dream Palace beruht auf einer Novelle von James Purdy ("es war mir, als hätte diese Geschichte auf mich gewartet").

Neu im zweiten Biennale-Programm: Figurentheater, eine alte europäische, volkstümliche Tradition, zugleich eine Brücke zu fernöstlichen Kulturen - und ein Stück des genius loci, den einst Karl Amadeus Hartmann gegen den Vorwurf des Konservativen in Schutz genommen hatte: Die literarischen Szene-Rebellen im München des frühen 20. Jahrhunderts schätzten die besonders subtilen Formen des Kammertheaters als durchaus kritisches Medium. Das Netzwerk der Veranstaltungen, das die Biennale bot, erhielt damit eine bedeutsame Erweiterung.

Seit der Gründung waren die Opernaufführungen durch Komponistengespräche vorbereitet, durch Konzerte begleitet und durch Symposien reflektiert worden. Solche Verzahnungen der Darstellung und des Nachdenkens über Kunst in unserer Zeit - ihr Status ist im Doppelsinne kritisch - gehören zur elementaren Philosophie der Münchener Biennale, ebenso wie die Internationalität des Programms und der Wirkung. Der Blick bleibt dabei nicht auf Europa beschränkt. Die Opern der rumänischen Komponistin Violeta Dinescu (Eréndira), des Inders Param Vir (Snatched by the Gods; Broken Strings) und des Italieners Giorgio Battistelli (Teorema) wurden nach ihrer Premiere bei der 3. Münchener Biennale mehr als 20 Mal an deutschen, englischen, italienischen und österreichischen Bühnen nachgespielt, Benedict Masons Fußballoper Playing Away beschwor 1994 auf andere Art den Münchener genius loci; sie wurde danach im Mutterland dieser Sportart mehrfach aufgeführt.

Die Münchener Biennale 1994 war das letzte Festival unter der Künstlerischen Leitung von Hans Werner Henze. 1996 gab er den Direktionsstab weiter an Peter Ruzicka. Die beiden Künstler und Kunstermöglicher praktizierten das, was man vom Klassiker der Oper im 20. Jahrhundert, von Alban Berg lernen kann: Die Kunst des Übergangs. Die Biennale leiteten und verantworteten sie gemeinsam. Sie verwirklichte ein neues Konzept. Das Festivalprogramm blieb nicht mehr auf einen knappen Zeitraum im späten Frühjahr begrenzt, sondern wurde auf drei jeweils zehn- bis zwölftägige Aufführungsperioden verteilt. Acht neue Werke des Musiktheaters konnten so ihre Premieren erleben, darunter die Marco-Polo-Oper des chinesischen Komponisten Tan Dun, ein Werk einer kulturübergreifenden Polystilistik, auch eine Klanggeschichte der Beziehungen zwischen Europa und Asien; Helmut Oehrings D'Amato-System, Moritz Eggerts Helle Nächte - Stücke, die auch Verbindung zu weit zurückliegenden Traditionen des Denkens, Erzählens, Musizierens aufnahmen, und damit unsere heutige, in sich selbst verstrickte Gegenwart befragten.

Peter Ruzicka war zum Nachfolger von Hans Werner Henze prädestiniert. Selbst Komponist, verfügte er durch seine Intendantenjahre beim Radio-Symphonie-Orchester Berlin und an der Hamburgischen Staatsoper über die internationale Anerkennung, die konzeptionellen und administrativen Erfahrungen, die für die Künstlerische Leitung eines innovatorischen Festivals gefordert sind. Er stellte jede Biennale unter einen Leitgedanken. Dem Dialog der Kulturen war - in Fortsetzung des Ideenhorizonts von 1996 - die erste Sequenz der 6. Münchener Biennale 1998 gewidmet.

Der japanische Komponist Toshio Hosokawa brachte seine Vision of Lear nach einem Libretto und in der Regie von Tadashi Suzuki auf die Bühne; Sandeep Bhagwati ließ in Ramanujan östliche und westliche Theater- und Lebenswelten aufeinander treffen. Jan Müller-Wieland komponierte Garcia Lorcas Komödie ohne Titel. wie die Zeit vergeht stand als Leitgedanke über der zweiten Sequenz der 6. Biennale im Frühjahr 1999. Der Titel, den Babette Koblenz ihrer Oper gab, spielt auf den wohl berühmtesten Zeit-Roman an: Mit Recherche wollte sie "in den Zeitstrom forschend eintauchen, um die gewesene Wirklichkeit aus der Vergessenheit zu befreien und somit ein Zeichen gegen die Vergänglichkeit zu setzen".

Vladimir Tarnopolski legte seine Oper Wenn die Zeit über die Ufer tritt als einen Gang durch Vergangenheit und Gegenwart in die Zukunft, als Trilogie von Erinnern, Erleben und Erwarten, als Durchführung unterschiedlicher mentaler Bereiche und Kunstformen an. Das begleitende Symposium beschäftigte sich mit den philosophischen und ästhetischen Aspekten des Themas; die Konzerte zur Biennale versammelten Werke, die Zeit und Ewigkeit, Erfüllen der Zeit und Verströmen in ihr zum Thema machten.

Die überall bekannten Engführungen in den Kulturetats zwangen im Jahr 2000, zum alten Rhythmus der Biennale zurückzukehren und alle zwei Jahre für zwei Wochen die Aufmerksamkeit der musiktheatralischen Welt auf München zu lenken. Über Grenzen stand als Motto über dem Festival im viel umfeierten Schwellenjahr. Es beschreibt ein ästhetisches Anliegen nicht erst seit der Moderne: Schon die Romantik empfand die Gräben zwischen den Künsten als hinderlich und schüttete sie zu. Über Grenzen bedeutete aber auch das Überschreiten von Erfahrungszusammenhängen, von Mauern und Wällen, die mit unserem Verhältnis zur Geschichte schließlich auch uns selbst belasten. Pnima... ins Innere nannte die israelische Komponistin Chaya Czernowin ihre Oper, die sie als musikalische Seelenreise beschrieb. Claus-Steffen Mahnkopf nahm Walter Benjamins neunte Geschichtsthese zum Ausgangspunkt für seine Überlegungen, was neue Oper sein könne. Brian Ferneyhough, seinen Lehrer, beschäftigte ein ähnlicher Ansatz: Seine erste Oper Shadowtime eröffnete 2004 die Münchener Biennale. Sie nahm die Person, das Schicksal und das Denken Walter Benjamins als geschichtlichen Brennspiegel, mit dessen gebündelter Energie sie in die geistige Verfassung unserer Gegenwart leuchtete.

Ein Gedankenstrang zieht sich seit der fünften Biennale 1996 durch das Festival: die Frage nach einer zweiten Moderne, durch die sich die Sackgassen der Postmoderne öffnen könnten. Die Biennale 2002 machte die Virtuelle Realität zum Thema, also das, was die neuen Medien und die Geschwindigkeit ihrer Veränderung in unser Leben bringen – als Chance, als Irritation, als Aufwühlen des Archaischen. Das Motto der neunten Biennale führte 2004 ...in die Fremde und begriff diese nicht als Not, sondern als Notwendigkeit. Qu Xiao-songs Versuchung bearbeitete einen alten chinesischen Theaterstoff mit szenischen und musikalischen Mitteln des traditionellen chinesischen Theaters und der westlichen Moderne. In existentielle Grenzsituationen führten Johannes Maria Staud mit Berenice nach Edgar Allan Poe und Mark Andrés musikalisch-szenische „Schachnovelle“ 22.13, die das Verhältnis von Mensch und Computer nach dem Vorbild von Ingmar Bergmans Film Das siebente Siegel als „near-death“-Experiment anlegte. Vykintas Baltakas ließ in Cantio seine Akteure den „Traum eines Menschen am Ende der Welt“ durchspielen.

Vergessen gehört zur Geschichte und gefährdet sie zugleich. Erinnern kann zum Ballast und zum Motor des Widerstands werden. Dieser Thematik widmete sich die zehnte Biennale 2006 mit einem Motto, das den Kerngedanken trigonometrisch umschrieb: Labyrinth – Widerstand – Wir. Christoph Staude brachte die Utopie einer durchorganisierten und durchkontrollierten Gesellschaft nach Jewgeni Samjatins Science-Fiction Roman WIR auf die Bühne: Erinnerung wird darin zur rettenden Subversion. Dem Labyrinthischen als Schutz, als Gefahr, als Weg des Denkens und der Erfahrung widmete Aureliano Cattaneo seinen Opernerstling La philosophie dans le labyrinthe nach Poesie von Edoardo Sanguineti. Stationen des Erinnerns und Vergessen durchmaß José Maria Sanchez-Verdú in Gramma, einem Drama der sensiblen Klänge.

Fremde Nähe – das Motto der 11. Biennale 2008 – konkretisierten Enno Poppe und Marcel Beyer in Arbeit Nahrung Wohnung als Spiegel moderner Irritation: der aus der Gesellschaft Geschleuderte will gar nicht mehr in sie zurück. Carola Bauckholt komponierte und inszenierte hellhörig die nächste Nähe, die Welt der Geräusche; Klaus Lang und Claudia Doderer näherten sich in architektur des regens mit der Klang- und Bildsprache der Moderne den Zeit- und Raumerfahrungen des japanischen No-Theaters an. Jens Joneleits komponierte mit Piero – Ende der Nacht ein „Hörstück der wandernden Gedanken und Klänge“ in der Tradition von Nonos „Dramma in ascolto“.

Das größte Projekt der 12. Biennale (Der Blick des Anderen) thematisierte eine Region, an deren Schicksal sich die Zukunft dieses Planeten entscheiden könnte: In drei sehr heterogenen Teilen des Amazonas-Projekts trafen der europäisch-vereinnahmende und der indigen-bewahrende Blick mit dem vom Karlsruher ZKM unternommenen Versuch einer diskursiven Annäherung an Zukunftsfragen zusammen. Die chinesische Komponistin Lin Wang interpretierte in Die Quelle das Leben im Spannungsfeld zwischen chinesicher und europäischer Tradition und rasanter Innovation als Aufforderung, gestanzte Gewissheiten zu verlassen und sich vorbehaltloser Selbsterkenntnis zu öffnen. Philipp Maintz komponierte den radikal anderen Blick, seine Oper MALDOROR entwirft ein Bild der Welt aus der Sicht des Bösen. Marton Illés komponierte sein erstes Musiktheater-Werk Die weiße Fürstin nach einem symbolistischen Dramenentwurf Rilkes, der geradezu danach verlangt, in Musik aufgehoben zu werden.

Teil der Münchener Biennale waren stets auch Konzerte und Produktionen verschiedener Hochschulen, deren Kompositions- und Regie-Studenten sich mit dem Motto der jeweiligen Biennale auseinandersetzten. Mit dem Motto Der ferne Klang formuliert die 13. Münchener Biennale nicht nur einen gemeinsamen Gedanken aller Projekte, sondern stellt sich auch bewusst in die Tradition der Moderne. Vor hundert Jahren, im August 1912 wurde Franz Schrekers gleichnamige Oper, eine Referenzwerk Neuen Musiktheaters, zum ersten Mal aufgeführt.