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Musiktheater-Passion in drei Teilen für vier Instrumentengruppen, sieben Sängerinnen und Live-Elektronik
Kurzinformationen:
Musik:
Mark André
Musik und Konzept:
Mark André
Musikalische Leitung:
Peter Hirsch
Regie:
Georges Delnon
Inspizienz:
Hans-Erich Vincke
Veranstaltungsort:
Uraufführung:
Muffathalle
Weitere Vorstellungen:
Muffathalle
Muffathalle
Muffathalle
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Musiktheater-Passion in drei Teilen für vier Instrumentengruppen, sieben Sängerinnen und Live-Elektronik
Der Titel des Werkes nennt eine Bibelstelle. In Kapitel 22 der Johannes-Apokalypse steht im 13. Vers: „Ich bin das A und das O, der Erste und der Letzte, der Anfang und das Ende.“ Damit ist Gott, die Fülle des Seins und des Wissens, als paradoxe, in Raum und Zeit zugleich alles umspannende Identität gekennzeichnet. Die Offenbarung des Johannes bildet für Mark Andrés Oper eine wesentliche gedankliche Quelle, für Details und Stationen, aber auch für den gesamten Horizont des Werkes. Mark Andrés Komposition ist auf das Ende gerichtet: „…das O…“, „…der Letzte…“ und „…das Ende…“ sind die drei Teile seiner Oper überschrieben.
Der 39-jährige Komponist setzte sich bereits in der Vorstufe zu „…22,13…“ mit dem visionären, hoch symbolischen letzten Buch der Bibel auseinander. Im Februar 2001 stellte er sich in einem Konzert der Reihe Klangspuren dem Münchener Publikum mit Kanon, einem Stück für Kontrabassklarinette, Kontrabass und Klavier vor. Motto und Leitgedanke: der Anfang des achten Apokalypse-Kapitels, auf dem einst Ingmar Bergman seinen Film Das siebente Siegel aufbaute. Mark André denkt in seiner Oper den Ansatz von Kanon weiter, obwohl er das Stück selbst nicht in den musiktheatralischen Zusammenhang übernahm. Doch wie in seinen kammermusikalischen Werken dominieren auch in der neuen Oper die dunklen Instrumentalfarben: keine Geigen sind besetzt, auch keine Bratschen, keine hohen Holz- oder Blechbläser. Die Streicherfamilie ist durch Violoncelli und Kontrabässe, die Holzbläser sind durch Bassflöte, Fagott und Bassklarinette, das Blech durch Posaunen und Tuba vertreten. In den höheren und hohen Registern bewegen sich allein die menschlichen Stimmen (Sopran und Alt). Instrumente (ergänzt um Schlagzeug) und Sängerinnen sind in vier verschiedenen, voneinander getrennt postierten Gruppen im Raum verteilt. Sie stehen sich paarweise gegenüber wie auf zwei, um 90° gegeneinander versetzten Schachbrettern. Sie umgeben das Auditorium und nehmen es in ihre Mitte. Durch Live-Elektronik werden die musikalischen Aktionen der Ensembles aufgenommen, verarbeitet und verwandelt wieder in den Klangprozess des Werkes eingegeben. Dafür entwickelte Mark André in Zusammenarbeit mit dem Experimentalstudio der Heinrich-Strobel-Stiftung eine spezifische Computersoftware.
Schach
Der zweite gedankliche Kern, aus dem Mark André sein Opernprojekt entwickelte, ist in der Studie angelegt, für die er 2001 den Kompositionspreis der Frankfurter Oper erhielt. Thema: Garry Kasparows „Rematch“ gegen den IBM-Computer Deep Blue. Hintergrund: Kasparow, amtierender Schachweltmeister, hatte 1996 sechs Partien gegen den IBM-Computer gespielt und gewonnen. Er erklärte sich bereit, im Mai 1997 gegen die weiterentwickelte Denkmaschine erneut anzutreten. Nach einem Sieg, einer Niederlage und drei Remis verlor er die entscheidende sechste Partie spektakulär durch Aufgabe nach dem 19. Zug. Das Ereignis löste heftige Diskussionen über Berechenbarkeit und Unberechenbarkeit, Vorhersehbarkeit und Unvorhersehbarkeit, vor allem aber über die Kommunikation von Mensch und intelligenter Maschine aus. Mark André sieht darin eine geschichtsentscheidende Frage.
Mark André bezieht sich in seiner Oper auf zwei Szenen aus Kasparows filmisch dokumentiertem Rematch gegen Deep Blue, auf die Schlüsselszenen. Das sechste Spiel, das 1997 die Niederlage des Weltmeisters aus Fleisch und Blut besiegelte, legte er der ersten Szene …das O zu Grunde. Die Musik rekonstruiert und reflektiert dabei genau den Zeitverlauf des Spieles. Der Abstand zwischen den Zügen, die stummen, wenngleich nicht bewegungslosen Denkphasen, die auf Kasparows Seite gegen Ende des Vergleichs immer länger, auf Seiten Deep Blues aber immer kürzer, knapper, fast wie Schläge wurden, bestimmen den musikalischen Ablauf, die einzelnen Impulse, die bisweilen nachhallen, die raschen Figuren, die sich überlagern, ablösen und an einer Stelle regelrecht jagen, die Stille, deren Grenze oft wie ein geheimer Magnet der Ereignisse wirkt und das Hörbare verschlingt. Die Musik von Instrumenten und Stimmen bewegt sich überwiegend in leisen und ganz leisen Bereichen. Desto schärfer brechen die wenigen lauten Stellen wie erschreckende Katastrophenzeichen hervor. Der biblische Text, die Worte der Apokalypse sind in dieser Szene nur als phonetisches Material (als Vokale A und O) vorhanden. Die erste Szene von „…22,13…“ ist eine weiterentwickelte Fassung der Studie, für die Mark André von der Frankfurter Oper ausgezeichnet wurde.
Das zweite Spiel des Turniers von 1997 – Kasparows erste Niederlage gegen den unbeseelten Gegner – bestimmt den Zeitverlauf für die zweite und ein Stück weit auch für die dritte Szene. Musikalisch sind in diesem Teil alle vier Gruppen im Raum von Anfang an beteiligt. Über Lautsprecher werden gesprochene Texte eingeblendet, die elektronisch leicht bearbeitet sind, aber dadurch nichts an Deutlichkeit verlieren. Sie sind in deutscher und schwedischer Sprache aufgezeichnet, stammen aus der Bibel, einzelne Verse und Passagen aus der Passionsgeschichte, wie sie der Evangelist Johannes schrieb, und Verse aus der Apokalypse des Johannes aus Patmos. Die Strukturierung der musikalischen Zeit und mit ihr die Dramaturgie der Oper geht von den Schachzügen mehr und mehr an diese Texte über. Sie werden gleichsam zu Stationen einer Passion, zum Kreuzweg.
Passion
Mark André nennt sein Werk eine Musiktheater-Passion, er hat dabei den Begriff in seiner ganzen Vielschichtigkeit im Sinn. Passion ist Leidenschaft, Gary Kasparows Obsession, seine außergewöhnliche Intelligenz der Prüfung und der Gefährdung durch die denkende Maschine auszusetzen. Bis heute hat ihn diese Leidenschaft nicht verlassen. Passion aber auch als Leidensgeschichte, die Menschheit in der existentiellen Bedrohung durch das, was sie selbst schuf: die Welt der künstlichen Intelligenz, die mit zunehmender Autonomie und Lernfähigkeit an Macht gewinnt. Wer wird dieses Spiel gewinnen? Die Menschheit aber auch in der existentiellen Bedrohung durch das, was sie selbst ist. In der dritten Szene des Werkes, wenn die zweite Partie als Regulator der Ereignisse am Ende ist und die ersten Texte aus der Offenbarung über die sieben Engel am Ende der Zeit zu hören waren, vollzieht sich in Musik und Szene ein Bruch. André erinnert mit äußerst reduzierten Mitteln an den Phantomzug, in dem Gefangene der Nationalsozialisten im Sommer 1944 von Toulouse nach Dachau 57 apokalyptische Tage lang unterwegs waren. Die Musik wird an den Rand ihrer Existenz geführt, sie operiert an der Grenze zum Unhörbaren. Ihr zeitlicher Verlauf wird so weit gespannt und gedehnt, dass er zu reißen droht und die Zeit als Wahrnehmbares verlassen ist. Was kommt nach ihr?
Es gibt einen Film, der die drei fremden Welten – Schach, Passion und Apokalypse – zusammenbringt: Das siebente Siegel von Ingmar Bergman. Das Bilder-Epos aus der Ära des Kunst-Films ist fast fünfzig Jahre alt, aber in seiner Bildersprache wie in seiner Zeitregie beklemmend aktuell. Darin spielt der Kreuzritter Block, während einer Pest-Epidemie in seine schwedische Heimat zurückgekehrt, mit dem Tod um sein Leben Schach. Der Tod kennt viele Partien, kann seine Spieler-Identität wechseln. Er gewinnt. Wie Deep Blue. Von einem „Near-Death-Experiment“ im Zusammenwirken von Musik, Raum, Bühne, Projektionen und Text sprach der Komponist. „…22,13…“ ist auch eine musiktheatralische Entgegnung auf diesen Film, der ebenfalls aus dem Nachdenken über die Johannes-Apokalypse entstand.