Versuchung
Kammeroper nach einem klassischen chinesischen Schauspiel (in chinesischer Sprache)
Kurzinformationen:
Musik:
Qu Xiao-Song
Libretto:
Wu Lan und Qu Xiao-song (nach einer traditionellen chinesischen Vorlage)
Musikalische Leitung:
Rüdiger Bohn
Regie:
Sabrina Hölzer
Ausstattung:
Etienne Pluss
Veranstaltungsort:
Uraufführung:
Gasteig/Carl-Orff-Saal
Weitere Vorstellungen:
Gasteig/Carl-Orff-Saal
Gasteig/Carl-Orff-Saal
Versuchung
Kammeroper nach einem klassischen chinesischen Schauspiel (in chinesischer Sprache)
In die Fremde führt Qu Xiao-songs Oper Versuchung gleich doppelt: Sie spielt dort, wo noch keine Lebender war, im Reich der Toten. Sie führt in eine ferne Kultur, in die Welt des chinesischen Theaters und seiner Traditionen. Qu und seine Librettistin Wu Lan wählten einen klassischen chinesischen Opernstoff zur Grundlage für ihr Werk. Die Fabel wurde im Reich der Mitte in unterschiedlichen Versionen unter verschiedenen Titeln (Die Blütenhalle, Der Sarg in Splittern, Der Schmetterlingstraum) verbreitet. Er stammt aus der Tradition des Kunqu-Theaters, das im Süden Chinas, in Suzhou, ungefähr 200 km westlich von Shanghai, seinen Ursprung und sein Zentrum hatte. Kunqu repräsentierte die verfeinerte Kunstform des chinesischen Theaters, das galt für die literarische Qualität der Stücke, für die Darstellungskunst und für die Musik, in der Saiteninstrumente und Bambusflöten bevorzugt wurden. Die klassische Vorlage zu Versuchung entstand im 18. Jahrhundert, Autor und genaue Entstehungsdaten sind nicht bekannt. Das Stück spielt im alten China, in der Zeit der Streitenden Reiche (472–221 v. Chr.). Im Mittelpunkt der Geschichte von Liebe und Tod stehen Zhuang Zhou (369–286 v. Chr.), der auch respektvoll „Zhuangzi“ (Meister Zhuang) genannt wurde, ein Exponent des Daoismus, und seine Frau, Mme. Tian.
Der Inhalt
Auf dem Weg nach Hause – oder im Traum? – gerät der Weise in die Unterwelt. Der König des Totenreichs empfängt ihn und eröffnet ihm, dass seine Zeit noch nicht abgelaufen, seine Sinne noch nicht rein und er deshalb noch nicht zur Erleuchtung fähig sei. Auf Zhuangs zweifelnde Rückfrage fordern die Gerippe berühmter Denker und Regenten den unerwarteten Gast zu einem Versuch auf. Er sieht eine junge Frau, die vor einem frischen Grab kniet und es befächelt. Die chinesische Sitte verlangte von Frauen, nach dem Tod ihres Mannes durch ein Leben in Enthaltsamkeit das Lob der Nachbarn, die Achtung der Gemeinde und schließlich den „Ehrenbogen“ zu erlangen. Auf Zhuangs Frage, was sie tue, antwortet die junge Frau, ihr Mann habe ihr noch im Sterben geraten: „Wenn das Begräbnis vorbei und meine Grabstätte getrocknet ist, suche dir einen neuen Liebhaber.“
Um der quälenden Einsamkeit möglichst schnell zu entkommen, beschleunige sie das Trocknen des Grabes. Zhuang, irritiert über die Ungeduld des Vergessenwollens, beschließt, seine Frau Tianshi auf die Probe zu stellen. Er simuliert sein Begräbnis, schickt den gut aussehenden Chu Wangsun als seinen Schüler zu Mme. Tian, um sie zu trösten, mit Lehren und „letzten Worten“ Zhuangs zu überreden, sie mit Liebenswürdigkeiten zu umgarnen und schließlich den Anfall einer Krankheit vorzutäuschen, die nur durch Menschenhirn, sprich: durch eine Schändung von Zhuangs Leiche zu heilen wäre.
„In der chinesischen Erzähl- und Theatertradition war es bekannt, dass“ die Geschichte von Zhuang Zhou und seiner Prüfung „das Leben im Traum symbolisiere“ (Michael Gissenwehrer). Der Epilog in Qu Xiao-songs Oper deutet die enge Verschränkung von Wirklichkeit und Traum, von Realität und inszeniertem Spiel, man könnte auch sagen: von Kunst und Leben, von Identität und Nicht-Identität an. Die Grenzen verwischen. Die Szene gleicht dem Prolog, in dem Zhuang Zhou die Unterwelt betrat, die Gerippe der Berühmtheiten aus alter Zeit traf und die erste Grenze durchbrach: Er erkannte die Nichtigkeit des Ruhms. Im Epilog durchbrach er eine zweite Grenze: Er erkannte die Nichtigkeit von Liebe und Leben.
Stationen einer künstlerischen Entwicklung: Qu Xiao-song
Der Komponist Qu Xiao-song hat in seinem Leben mehrmals kulturelle Grenzen durchbrochen, immer bedeutete der Schritt in eine bisherige Fremde für ihn eine lebensgeschichtliche Zäsur und neue kulturelle Orientierung. Den ersten Schritt tat er zwangsweise im Alter von vierzehn Jahren. 1966 rief die Kommunistische Partei Chinas die Kulturrevolution aus. Junge Leute, Schüler, Studenten, auch Künstler aus den Städten wurden aufs Land geschickt. Die Arbeit bei und mit den Bauern sollte ihrer Umerziehung zum „kommunistischen Menschen“ und zugleich der ideologischen Beeinflussung der Landbevölkerung dienen. Das Umdenken, das sich bei Qu Xiao-song in jener Zeit einstellte, nahm eine andere als die kommunistisch erwünschte Richtung. Er lernte die alten Traditionen chinesischer Volkskultur kennen, die sich trotz der Revolution gehalten hatten. Er begriff die Musik dabei als einen zentralen Teil des Lebens in den traditionellen Gemeinschaften. Wie kaum ein anderer Komponist wurde Qu durch seine „kulturrevolutionäre“ Erfahrung, durch die auf dem Lande noch lebendigen Traditionen geprägt: durch den Einklang von Natur und Kultur, den sie suchten, durch den Respekt vor der Stille, den sie übten, durch die gelebten Maximen, nicht ausdrücklich durch die Lehren der konfuzianischen Lebensanschauung; in der Kultur Chinas „waren Doktrinen und Prinzipien stets von geringerer Bedeutung als das wirkliche Verhalten der Menschen“ (Colin Mackerras).
Die vier Jahre in Mio bedeuteten einen entscheidenden Umschwung in Qus geistiger Entwicklung. Er führte weg von den politischen Doktrinen der kommunistischen Führung hin zu den Traditionen Chinas, in denen ein eigener Weg in die Zukunft vorgezeichnet war. Bis sich die Erfahrung des Jugendlichen – Qu war achtzehn, als er die Region Mio wieder verließ – musikalisch auswirkten, vergingen Jahre.
Der zweite Einschnitt hing mit Chinas Politik der Öffnung zusammen. 1976 wurde der britische Komponist Alexander Goehr nach China eingeladen, um eine Lehrplanreform des Konservatoriums in Schanghai (wo Qu heute unterrichtet) zu leiten. 1979 gab er am Konservatorium in Peking einen Kompositionskurs, an dem sich unter anderem Tan Dun und Qu Xiao-song beteiligten. Für Qu, damals in seinen ersten Studiensemestern, war dies die erste Begegnung mit der westlichen Moderne und Avantgarde. Qu fühlte sich besonders von der Musik Witolt Lutoslawskis mit ihren statischen orchestralen Klangflächen angezogen. Diese Kompositionsweise ließ sich nach seiner Überzeugung mit den chinesischen Traditionen viel besser verbinden als das tonale System, mit dem die Peking-Oper nicht erst seit der Zeit Mao Zedongs zum pittoresken Exportartikel „aufpoliert“ worden war.
Qus dritter Schritt führte hinaus aus China. Zehn Jahre, von 1989 bis 1999, lebte er überwiegend in New York. 1999 kehrte er – der vierte Schritt – nach China zurück. Er lehrt am Konservatorium in Shanghai. Die Arbeit in seiner Heimat ist für ihn nicht leichter als die im westlichen Ausland. China modernisiert sich in atemberaubendem Tempo, die Wirtschaft, die Städte, das Lebensgefühl und mit ihnen auch die Kultur. Das „Reich der Mitte“ orientiert sich trotz allen pseudokommunistischen Konservatismus an den modernen Industriestaaten. Dabei droht China seine eigenen Traditionen zu verwischen und zu verlieren, konstatiert Qu Xiao-song mit Sorge. Tradition ist für ihn nicht nur Ballast auf dem Weg in die Zukunft, sondern auch der Spiegel, der uns – wie der Mutter von Schneewittchen – bisweilen auch durchaus kritische Auskunft gibt, Geschichte ist das Gewissen der Gegenwart.
Synthese I: China
Die klassische Vorlage für Qu Xiao-songs und Wu Lans Oper stammt zwar aus der Tradition des hochartifiziellen und stilisierenden Kunqu-Theaters, doch bezog Qu auch Elemente des derberen, volksnahen, vor allem im Norden Chinas beheimateten Qin-qiang-Theaters ein. Er tat dies in der Musik, in der Instrumentation. Die starke Präsenz des Schlagzeugs, vor allem der Metallinstrumente, entspringt der Qin-qiang-Tradition. Für seine Komposition schuf Qu auf diese Weise die Voraussetzung zu schärferen Gegensätzen zwischen explosiven Phasen auf der einen, und Passagen, die sich am Rand der Stille bewegen und die Grenze zu ihr überschreiten, andererseits. Qus Musik lebt aus Kontrasten und ihrer emotionalen Unmittelbarkeit. Sehr dichten Texturen entgegnen andere, die in die Zeit gespannt sind und damit Hörer wie Interpreten herausfordern. „Einmal fragte mich ein Dirigent, ob er ein Stück, für das ich Tempo 40 M.M. vorgeschrieben hatte und das vom Ensemble in diesem ruhigen Tempo sehr schön gespielt worden war, nicht auf 60 M.M. anziehen könne.“ Die dritte Szene, Totenwache, in der Mme. Tian am Sarge ihres Mannes sitzt und trauert, ist in solch langsamem Tempo gehalten, ein Zeitdiagramm des Leides, in das die weit gespannte Melodik der Solistin im Dialog mit den Instrumenten den Ausdruck nach innen gewandter Verzweiflung setzt.
Auch in der Ausstattung der dramatis personae führten Qu Xiao-song und Wu Lan die beiden gegensätzlichen Traditionen des chinesischen Theaters zusammen. Die Rolle des Prinzen Chu, der sich als Zhuangs Schüler ausgibt und Mme. Tian für sich gewinnt, ist bis in die Sprache nach dem Vorbild des Kunqu-Theaters gestaltet. Die Rolle des Schamanen, des Zeremonienmeisters in der Begräbnisszene, der auch im Epilog wieder auftritt, folgt dagegen der Qin-qiang-Tradition und eines dort in Charakter und Aktionsweise fest umrissenen Rollentypus, der sich äußerlich durch eine Schminkmaske in roter Farbe auszeichnet. In den Aufführung von Versuchung sind die Rollen mit Künstlern besetzt, die in den entsprechenden Traditionen ausgebildet wurden. Sie kenne die Masken, die zu ihrem dramatischen Typus gehören, die Kostüme, die Art des Singens und die Bewegungen, deren jede ebenfalls im Sinne von Körpersprache ihre eigene Bedeutung hat.
Synthese II: Moderne
Die Protagonisten, Zhuang Zhou und Mme. Tian, sind dagegen mit Künstlern besetzt, die ein Gesangsstudium nach westlichem Vorbild durchlaufen haben. Ihre Partien verlangen Erfahrung mit der Musik der Moderne und der Avantgarde. Sie sind Teil der dritten Ebene, die Qu Xiao-song in sein Musiktheater integriert, der westlich8en Traditionen, die er studierte, praktizierte, mit denen er sich vertraut machte und komponierte. Entsprechend gehören zum Orchester nicht nur traditionelle chinesische, sondern auch westliche Instrumente, je zwei Geigen, Bratschen, Violoncello und ein Kontrabass.
Qu setzt die Instrumentierung stellenweise dramatisch funktional ein und unterstreicht dadurch vor allem den inneren Gang der Handlung. So greift in der zentralen Szene 4 (Versuchung) die Flöte erst in dem Augenblick ein, in dem Prinz Chu seine Verführungskünste auszuspielen beginnt. Im wesentlichen aber behandelt Qu das Orchester integral, als eine Einheit und nicht als Gegensatz zweier Klanggruppen. So wirken die Streicher im Prolog zunächst wie ein Resonanzraum des Schlagzeugs, das nach Qin-qiang-Tradition das Stück allein beginnt, und lösen sich allmählich aus dieser klanglichen Bindung. Spieltechniken der Neuen Musik – Clusterbildungen, Klangflächen aus Glissandi, Agieren an und jenseits der Geräuschgrenze – werden von allen Instrumenten verlangt. In der Auseinandersetzung des Heterogenen bildet sich Qus charakteristischer Personalstil heraus.
Zur Szene
Das chinesische Theater kommt vor allem in seinen populären Formen mit kleinen Besetzungen und sparsamen Requisiten aus. Die Inszenierung von Sabrina Hölzer und das Bühnenbild von Etienne Pluss folgen dieser Ästhetik der Reduktion. Zu ihr gehört auch, dass es keine Mitwirkenden außerhalb des Bühnenkontexts gibt. Das Orchester sitzt nicht für sich im Graben, die Musiker sind in das Spiel auf der Bühne mit einbezogen. Der Dirigent übernimmt in Prolog und Epilog die Rolle des Königs im Totenreich, die Musiker die Rolle derer, die in diesem Reich schon lange, lange wohnen.
In der Probenarbeit lassen sich die Künstler, die aus gänzlich verschiedenen Kulturzusammenhängen kommen, auf die sensible Auseinandersetzung mit Unbekanntem ein. Die Zeitgenössische Oper Berlin hat in ihrem ersten Projekt mit Qu Xiao-song – der Oper Die letzte Saite – mit dieser Arbeitsweise gute Erfahrungen gesammelt. Dies war mit ein Grund dafür, dass sie ein zweites Projekt mit Qu als Fortsetzung anregte, um es mit Kooperationspartnern zu realisieren. Gesucht wird nicht nach dem Muster von Crossover oder World Cross die schnelle Vermittlung, die scheinbar sofort einleuchtet, sondern eine kulturelle Begegnung, die sich letztlich in vielen Kapiteln ereignen und bewähren muss. Sie steht auf der weltpolitischen Agenda der Globalisierung, muss aber vor allem auch in ihre Tiefendimensionen ausgeleuchtet werden. Fremdheit ist der Ausgangspunkt solcher Arbeit. Am Ende steht vielleicht, wie in der Oper Versuchung selbst, die Erkenntnis, dass die eigentlich bestürzende Fremde nicht weit weg von uns, sondern in uns selbst liegt.
Crossover, Fusion, World Cross – an Moden, musikalische Stile, Sphären und Traditionen marktgerecht miteinander zu verbinden, hat es in den letzten Jahrzehnten nicht gefehlt.